Wir sitzen auf der Terrasse des Gasthofs, über uns ein Dach gegen die Sonne, vor uns der niedriger gelegene Teil des Gartens mit den anderen Tischen und weiter hinten die Berge. Vor uns stehen die leeren Suppenschalen. Wir sind ein wenig gesättigt und zugleich ist der Appetit auf das Hauptgericht nun geweckt. Unser Warten kann etwas geduldiger sein und eine erste Trägheit löst die Ungeduld ab. Der Blick schweift über die anderen Gäste – und findet unerwartete Abwechslung:
Der Mann betritt den Garten des Gasthofs durch den Eingang von der Straße aus, als gehöre ihm das ganze Anwesen. Er bleibt stehen und sieht sich um. Mit durchgestrecktem Rücken, erhobenem Kopf und in die Luft gereckter Nase steht er da, in gemäßigte Fahrradbekleidung gewandet: kurze Hose, Trikothemd, Freizeitschuhe, einen Lenkertasche unter dem Arm. Die Schnalle des Helms ist bereits gelöst, die beiden Teile des Kinngurtes baumeln neben den Wangen. Man sieht ihm an: die Schlacht der Straße ist erfolgreich geschlagen, nun sucht der Feldherr nach einem angemessenen Hügel zum Ausruhen.
Seine Augen sind hinter der Sonnenbrille versteckt, so kann er die anderen Gäste mustern und abschätzen. Er scheint Zweifel daran zu haben, dass hier jeder seiner Anwesenheit würdig ist. Vermutlich muss er den Impuls niederkämpfen, den Ort wieder zu verlassen. In der Öffentlichkeit ist Berührung mit dem Volk leider nicht zu vermeiden. Ein schwerer innerlicher Seufzer ist nicht zu übersehen. Zudem hat er Hunger und ihn dürstet. Offensichtlich entscheidet er sich dafür, den anderen Gästen großmütig zu verzeihen, dass sie ebenfalls hier sind.
Inzwischen ist auch sein Gefolge eingetroffen. Eine Frau ist zwei Schritte hinter ihm zum Stehen gekommen, ähnlich gekleidet, in der Hand einen Fahrradkorb. Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht der Umwelt, sondern ausschließlich ihm, bemüht ihm zu folgen, wohin er seine Schritte wenden mag.
Der Mann – die Entscheidung zum Bleiben ist ihm nicht leicht gefallen – sieht sich nun nach einem passenden Tisch um. Er bewegt sich auf die Terrasse zu, prüft die Plätze auf die mögliche Sicht Richtung Berge: nein, hier hätte man die Schirme des Gartens im Weg – nein, dieser Tisch steht zu nahe an der Treppe, jener steht zu nah am Gang, den die Kellner benutzen müssen. Der dort wäre passend und etwas abseits und ruhig, vielleicht aber auch außerhalb der Aufmerksamkeit der Kellner … dann doch dieser.
Seine Begleiterin ist ihm im Abstand von zwei Schritten geduldig gefolgt, aufmerksam auf seine Entscheidung. Nun hat sie aber nicht schnell genug bemerkt, dass er sich doch noch einmal anders entscheidet und als er sich abrupt umwendet, steht sie ihm bereits im Weg. Sie versucht noch, sich mit einem Schritt beiseite in Sicherheit zu bringen, da hat er sie schon angerempelt, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Sie erlangt das Gleichgewicht wieder, entschuldigt sich mit einem geknickten Blick bei der Frau, deren Stuhl sie angestoßen hat und beeilt sich, ihm zu dem endgültigen Tisch zu folgen.
Der Mann prüft die Sicht in Richtung Berge, entscheidet sich für den rechten der beiden Stühle mit der richtigen Blickrichtung, lässt sich auf den Stuhl fallen. Inzwischen hat auch sie den Tisch erreicht, wortlos weist er ihr den Sitz links neben sich an.
Die Frau legt zunächst ihren Fahrradkorb auf dem Stuhl gegenüber ab. Sie könnte sich jetzt auch setzen, aber: Er hat seine Lenkertasche vor sich auf den Tisch gestellt und ist damit beschäftigt, seinen Helm abzunehmen. Sie räumt die Lenkertasche vom Tisch und zu ihrem Korb auf den Stuhl gegenüber. Er hat den Helm abgenommen, vor sich auf den Tisch gelegt und beschäftigt sich damit, die fingerlosen Handschuhe abzupellen. Sie nimmt den Helm und verstaut ihn bei Korb und Lenkertasche.
Nun hat er sich der Handschuhe entledigt. Verknüllt lässt er sie auf den Tisch fallen, den Blick auf die Berge gerichtet.
Sie pendelt bereitwillig zwischen den zur Ablage bestimmten Stühlen und seinem Platz, von dem aus er sie wortlos und ohne sie anzusehen beschäftigt hält. Jetzt nimmt sie auch die Handschuhe auf, glättet sie und verstaut sie im Fahrradkorb.
Nun könnte sie sich ebenfalls setzen. Mehr gibt es seinerseits nicht abzulegen. Das hat auch die Kellnerin erkannt und steuert den Tisch an, um eine erste Bestellung aufzunehmen. Oder besser doch nicht? Der Mann beginnt, den Unterschenkel über das rechte Knie gelegt, die Schnürsenkel seines linken Schuhs zu lösen.
Die Kellnerin bremst. Die Frau zögert, sich zu setzen – muss sie gleich auch seine Schuhe vom Tisch räumen?
Der Mann schüttelt ein Steinchen aus dem Schuh und beginnt, ihn wieder anzuziehen.
Die Frau nimmt auf dem ihr angewiesenen Stuhl Platz. Die Kellnerin setzt sich wieder in Bewegung.
Einen Moment später steht sie am Tisch, fragt nach den Getränkewünschen. Der Mann schaut Richtung Berge. Die Kellnerin hat bemerkt, dass sie seine Aufmerksamkeit nicht bekommen kann und spricht seine Begleiterin an. Diese gerät in einen Konflikt: sie will den Mann nicht unangemessen behelligen und zugleich auch die Kellnerin nicht warten zu lassen. Sie schlägt ihm etwas vor, er nickt knapp. Die Kellnerin wirkt erlöst, während sie mit dem Auftrag für zwei Schorlen loseilt.
Schweigen.
Man sitzt. Der Mann schaut auf die Berge. Die Frau schaut auf den Mann.
Pause.
Sie fragt, was er denn essen wolle. Er schiebt ihr die geschlossene Speisekarte hin. Seine Bestellung selbst aufzugeben, ja auch die Entscheidung zu treffen, ist ihm nicht zuzumuten und natürlich – er hat ja eine Begleiterin. Sie konsultiert kurz die Karte und er stimmt ihrem Vorschlag eines Gerichts mit einem knappen Nicken zu. Als die Getränke gebracht werden, bestellt sie erleichtert.
Er nimmt sein Glas auf – ein gemeinsames Trinken, geschweige denn nach dem Anstoßen, ist nicht vorgesehen. Führt also das Glas zu den Lippen, da überkommt ihn der Reiz zu niesen und gerade noch kann er das Glas wieder absetzen, bevor die Erschütterung etwas zum Verschütten bringt. Die Frau ist bereits aufgesprungen, entnimmt dem Korb eine kleine Tasche und diesem ein Taschentuch, das sie ihm reicht. Er schnäuzt sich laut. Ihre Haltung lässt erwarten, er werde ihr das Taschentuch zurückreichen, doch lässt er es zu unserer Erleichterung in seiner Hosentasche verschwinden.
Unmittelbar vor uns drohen inzwischen ein Tafelspitz und ein Hirschgulasch kalt zu werden, so fasziniert uns der Tisch in unserem Blickfeld. Wir stellen Vermutungen an, was als nächstes passieren kann. Zudem beschäftigt uns die Frage, ob die Begleiterin des Mannes seine Frau ist oder eine bezahlte Helferin?
Wieder steht sie auf, holt erneut die kleine Tasche aus dem Korb, kramt eine Druckfolie mit Tabletten heraus, die sie ihm ins Blickfeld reicht. Er – Blick auf die Berge – drückt eine Tablette heraus, wirft ihr die Verpackung mit den restlichen auf den Tisch neben ihr Glas. Nimmt seine Tablette, trinkt. Schweigt.
Sie sitzen in Erwartung des Essens. Gelegentlich lässt er eine Bemerkung fallen, der sie zuzustimmen scheint.
Nachdem die Gerichte gebracht wurde, können wir sehen, wie ihre Bereitschaft weiter besteht. Wird er Messer und Gabel überhaupt zur Hand nehmen oder ist es ihre Aufgabe, ihm sein Essen zu zerkleinern? Wenn sie ihn füttern würde – es wäre zum bisher Beobachteten die angemessene Fortsetzung.
Zu unserer ehrlichen Überraschung isst selbständig.
Wir sind etwas enttäuscht und bestellen Nachtisch. Auch wenn es zwei mal Dessert bräuchte – selbstverständlich bleiben wir, bis die beiden gehen.
Wer wird bezahlen – und mit wessen Geld? Wird sie aus seinem Portemonnaie zahlen oder es ihm nur reichen?
Während wir den Kaiserschmarrn genießen, erbittet sie die Rechnung von der Kellnerin. Als der Beleg vor ihr liegt, schiebt die Frau ihn hinüber. Er wirft einen Blick darauf und verlangt mit einer Handbewegung sein Portemonnaie, das sie ihm gibt. Die Vorstellung geht zu Ende.
Wir dürfen noch das Anfangsritual in umgekehrter Reihenfolge beobachten. Die Frau gibt ihm nacheinander seine Sachen, die er anlegt. Fertig gerüstet erhebt er sich. Sie überreicht ihm die Lenkertasche, mit welcher unter dem Arm er erhobenen Hauptes und ohne auf sie zu warten, das Lokal verlässt. Die Frau folgt.
Wir sitzen sprachlos.
Jetzt einen Schnaps?