Der Zug steht endlich. Ich starre auf den Führertisch vor mir.
In der Lok ist es laut, trotz des Stillstands, Lüfter und Kompressor laufen auf Hochtouren. Der Sitz unter mir vibriert. Meinen Herzschlag kann ich im Hals spüren. Ich versuche ruhig zu atmen. Langsam ein, anhalten, langsam wieder aus.
Meine rechte Hand hält den Bremshebel umklammert, zu mir gerissen, eingerastet in der Position für die Schnellbremsstellung. Mit der Linken hatte ich die Taste für die Bremssanddüsen gezogen, die ich jetzt zurückstelle. Draußen hört ein Rieseln auf. Meine Hände beginnen zu zittern.
Ich greife unter dem Sitz nach dem Hebel, stoße mich mit den Füßen am Sockel unter dem Führertisch ab und schiebe den Stuhl zurück. Als ich aufstehen will, geben meine Knie nach. Schnell setze ich mich wieder. Ich starre auf die Anzeigen vor mir.
Das Vibrieren und der Lärm hören plötzlich auf. Stille, die einen Moment später durch das leise Summen der Elektronik grundiert wird. Ruhig atmen.
Vor mir sehe ich durch die Frontscheibe das Gleis, das aus dem Bahnhof hinausführt. Rechts daneben ein letztes kurzes Stück des Bahnsteigs, graue Platten mit vereinzelten Grasbüscheln dazwischen. Am Ende, weiter vorn, ein Geländer und dahinter zeigt das Ausfahrsignal neben meinem Gleis Grün.
In W. ist kein Halt geplant für den Zug. Je länger wir hier stehen, desto mehr Verspätung bekommen wir. Ich sollte weiterfahren. Von hier sind es etwas mehr als zwei Stunden, dann werde ich abgelöst. Aber so einfach ist es jetzt nicht mehr. Auf Höhe der Bahnsteigmitte habe ich eine Bremsung ausgelöst. Gleich wird das Funkgerät piepen und jemand will wissen, warum ich angehalten habe. Ich weiß nicht was passiert ist. Nachsehen müsste ich. Aber an Aussteigen ist nicht zu denken. Das Zittern lässt nicht nach und ich bin froh, dass ich sitze.
Bei dem Gedanken an das, was ich draußen sehen könnte, vorn, unten an der Lok., wird mir schlecht. Am Zug entlang zurück gehen bis zur Bahnsteigmitte. Der Zug hat viele Wagen und einer der hinteren wird an der Stelle zum Stehen gekommen sein. Das Gleis unter dem Wagen ist vom Bahnsteig aus nicht gut einsehbar.
Ein Kollege hat erzählt, dass er damals selbst nachgesehen hat. Hinterher hat er nie wieder eine Lok bestiegen. Ich sollte den Zugbegleitern Bescheid geben, sie bitten nachzusehen und weiß nicht, was ich sagen soll.
Müdigkeit überkommt mich. Ich wünsche mir, ich hätte alles hinter mir, was jetzt auf mich zukommen kann. Bis eben war es noch einer der Tage, für die ich diesen Beruf liebe. Ich fahre einen richtigen Zug mit Lokomotive und Wagen. In moderater Geschwindigkeit steuere ich ihn durch die Landschaft, ohne automatische Führung. Ich sehe das Land, die Weinberge, den Fluss und nur gelegentlich Lärmschutzwände. Heute morgen war es noch herbstlich kühl und wenn die Sonne durch den Nebel durchkam, blinkten Gleise und Fahrleitung im Licht auf. Die graue Natur vor mir wurde dann für Momente aus dem Nebel gehoben und die Farben herbstlicher Blätter leuchteten an den Bäumen und den Weinstöcken auf.
Ich fahre Menschen, die in den Urlaub oder auf einen Besuch unterwegs sind oder die aus den Ferien zurückkommen. Sie reisen mit weniger Eile als sonst die vielen Fahrgäste in den ICEs. Wenn ich in einen Bahnhof einfahre, kann ich die Vorfreude in den Gesichtern sehen. Ich stelle mir vor, wie diese Menschen während der Fahrt miteinander ins Gespräch kommen. Nach ihrer Ankunft werden sie von jemandem am Gleis abgeholt. Während der kurzen Aufenthalte schaue ich aus dem Fenster am Zug entlang und sehe die Umarmungen auf dem Bahnsteig. Ich darf die Reisenden an ihr Ziel bringen oder wenigstens ein Stück weit. Wenn ich den Zug vom Steuerwagen aus fahre und die Lok hinten schiebt, steht oft jemand an der Glasscheibe hinter mir und schaut mir zu. Meistens lasse ich die Schiebetür offen und beantworte Fragen oder unterhalte mich mit meinen Zuschauern über ihre Reiseziele.
Mein Zug von heute morgen ist weiter unterwegs ins Allgäu, ein anderer Kollege fährt ihn inzwischen. In einem der großen Kopfbahnhöfe war Wechsel, danach hatte ich Zeit für die Toilette, für ein Brot und einen Becher Kaffee. Eine dreiviertel Stunde später ging ich wieder los. Während ich die Wartenden auf dem Bahnsteig passierte, freute ich mich auf die Rückfahrt. Vorn angekommen stand ich noch ein paar Minuten allein in der Sonne, dann kam der Zug in Sicht. Er passierte die Weichen, erreichte das richtige Gleis und rollte langsam und fast lautlos in den Kopfbahnhof ein. Im Vorbeifahren zeigte mir der Kollege auf dem Steuerwagen mit erhobenem Daumen, dass alles in Ordnung ist. Die Lok kam vor mir mit einem kurzen Quietschen der Bremsen zum Stehen. Ich stieg ein, hatte die üblichen vier Minuten, um alles für die Weiterfahrt vorzubereiten. Ein paar letzte Sekunden in angespannter Ruhe, mit offenem Fenster lauschte ich auf die Ansage am Bahnsteig. Ich hörte den Pfiff, die Türen wurden geschlossen und dann fuhr ich wieder. Langsam ging es aus dem Bahnhof, anschließend schneller heraus aus dem Talkessel der Stadt und auf die Schnellstrecke mit den vielen Tunneln und Brücken. Später ein kurzer Halt in einem anderen großen Bahnhof und danach fuhr ich über den Fluss auf die ländliche Strecke. Der Zug glitt schwer und trotzdem geschmeidig in sanften Kurven durch die hügeligen Weinberge. Die Strecke führt durch kleinere Orte. Die erlaubte Geschwindigkeit wechselt fast für jede Kurve und meistens reichte es, den Zug einfach ausrollen zu lassen, statt zu bremsen. Bald fuhr ich auf den Bahnhof von W. zu. In der Kurve davor sind 90 km/h erlaubt. Ich ließ den Zug vorher ausrollen und gab dann wieder etwas Leistung, ließ die Lok wieder anziehen. Die Geschwindigkeit muss ich bei der Durchfahrt in W. halten, denn gleich danach es nötig, wieder beschleunigen.
Aber jetzt stehe ich hier, am Ende des Bahnhofs, vor dem Ausfahrsignal. Ich will keine Verspätung, es muss weiter gehen. Das Licht vor mir leuchtet grün. Einen Moment frage ich mich, wo der Abfahrtauftrag bleibt, dann fällt mir ein, dass ich keinen erwarten kann. Ich habe eine Gefahrbremsung eingeleitet und der Zug ist mit einem harten Ruck zum Stehen gekommen. Gleich werden mich die Zugbegleiter fragen, was los ist. Ich muss es ihnen erklären, vorher geht es nicht weiter. Ich starre auf den Doppelgriff der Bremse, der zu mir nach hinten zeigt, und versuche, mich zu konzentrieren.
Nachdem ich die Kurve vor W. passiert hatte, lag der Bahnhof vor mir. Am Zugzielanzeiger auf dem Bahnsteig rechts neben mir leuchtete das Wort „Durchfahrt“. Bei jeder Fahrt habe ich kurz Sorge, ich könnte einen geplanten Halt vergessen, nehme die Zugkraft zurück und bin bereit zum Bremsen. Jedes Mal bin ich erleichtert, wenn ich feststelle, dass ich nichts im Fahrplan übersehen habe. Mein Zug soll in W. durchfahren, entsprechend leer war der Bahnsteig. Ich schob den Fahrschalter wieder nach vorn, um Leistung aufzuschalten und nicht an Geschwindigkeit zu verlieren. Auf dem zweiten Gleis, links neben meinem, stand ein Regionalzug in der Gegenrichtung. Dann sah ich sie.
Plötzlich lief alles automatisch und fast gleichzeitig in geübter Routine ab. Kraftvoll trat ich unter dem Führertisch mit dem rechten Fuß auf das Pedal für die Pfeife, die linke Hand zog den Fahrschalter zurück nach Null, die rechte Hand riss den Bremshebel nach hinten durch bis in den Anschlag, links schaltete ich die Sandstreu-Taste ein.
Mehr konnte ich nicht tun, als starr dazusitzen und zu warten, dass die Bremsung wirkt. Dabei weiß ich, dass der Bremsweg viel zu lang ist, um etwas verhindern zu können. Schnell ist das Mögliche getan und dann bleibt das Aushalten. Ich bin gezwungen, das Unausweichliche mitzuerleben. Wenigstens sollte ich nichts sehen, wenn es so weit ist. Wegschauen, den Kopf zur Seite drehen, nach unten schauen oder gleich die Augen schließen. Langsam nur beginnt der Zug zu bremsen, es dauert endlos bis die volle Wirkung da ist und die Lok und alle Wagen bremsen. Der Zug fängt an, langsamer zu werden. Mich quält die Vorstellung, wie viel Strecke er noch zurück gelegt haben wird, bis er endlich zum Stillstand kommt.
Der Zug steht. Ich habe nicht gesehen, was passiert ist. Einen Aufprall habe ich nicht gehört oder gar gespürt. Das hat nicht viel zu sagen, die Lok ist zu massiv. Das Zittern in meinen Knien und Händen endet nicht. Mir ist schlecht bei dem Gedanken daran, auch nur das kleinste Anzeichen dessen zu sehen, was geschehen sein muss. Ich muss nicht selbst nachsehen, ich darf auf der Lok bleiben, einen Notruf absetzen, die Zugbegleiter informieren. Ruhig bleiben, sitzen und abwarten, bis sich andere kümmern. Ein Kollege wird irgendwann kommen und mich hier ablösen. Ich habe gebremst. Mehr war nicht möglich.
Ich zwinge meine Gedanken zurück zu dem, was mich hat bremsen lassen: Rechts der leere Bahnsteig, links auf dem anderen Geis der Regionalzug. Rechts vor mir, an der vordersten Kante des Bahnsteigs, viel zu nah am Gleis und mit den Zehenspitzen über dem Abgrund: zwei Menschen. Mein Zug in hohem Tempo auf sie zu. Die Lok wird die beiden erfassen, oder der starke Luftsog um den fahrenden Zug tut es. Die Pfeife, laut, drei Tonlagen gleichzeitig. Keine Reaktion der beiden, kein Zurückweichen. Der Zug jeden Moment an der Stelle, wo sie stehen und noch fast keine Wirkung der Bremse. Vertieft ins Gespräch, Gesten hinüber zu einer anderen Person, zu einem offenen Fenster des Regionalzugs auf dem anderen Gleis links.
Gleich ein Unglück. Nicht hinsehen.
Vor mir leuchtet immer noch das grüne Signal, der Zug steht. Ich schaue auf die Strecke, die in die Weinberge hinausführt. Die Sekunden vergehen, fühlen sich nach Minuten an, dehnen sich zu Stunden. Ich will hier weg, endlich weiterfahren. Den Fahrplan einholen und meinen Tag zurückhaben, wie er begonnen hat. Mein Fahrtziel erreichen, abgelöst werden, frei haben für den Rest des Tages.
Jemand muss nachsehen, was passiert ist. Ich weiß nicht, wie verzweifelt Selbstmörder sein müssen, die sich auf diese Weise umbringen. Natürlich denken sie nicht an alle jene, die dann zu spät ankommen und sie denken nicht an meine Kollegen und nicht an die, die aufräumen sollen oder ermitteln müssen. Es fällt mir auch schwer, die zu verstehen, die sich in Bahnhöfen oder an den Gleisen unvorsichtig verhalten und die Regeln missachten, die zu ihrem Schutz gedacht sind. Wenn den beiden nichts passiert ist, kann ich wenigstens bald weiterfahren. Wissen muss ich es.
Ich greife nach dem Hörer des Funkgeräts, will mit den Zugbegleitern sprechen. Mein Finger liegt auf der Taste für den Ruf. Ich zögere.
Es gab noch etwas. Ich versuche, mich zu erinnern. Dann ist der Moment wieder da, mein Erschrecken, als ich sie sah. Zu dicht, viel zu nah an der Kante. Das Geräusch der Pfeife, durchdringend und unangenehm. Meine Schnellbremsung und keine Reaktion der beiden auf den Lärm. Stehen da und unterhalten sich. Immer näher der Zug bei ihnen und gleich, gleich der Unfall. Ich wie gelähmt, die Lok den beiden ganz nah. Die Gesichter gleich erkennbar, schnell die Augen schließen. Ich sehe gerade noch die Gesten ihres Gesprächs. Solche Gesten habe ich früher schon gesehen, ich erkenne sie wieder. Es sind Gesten der Gebärdensprache.
Ich atme ein und schließe kurz die Augen. Dann nehme ich den Finger von der Ruftaste, hänge den Hörer wieder ein.
Es waren Taubstumme. Sie haben nichts hören können, nicht den Zug und nicht die Pfeife. Sie konnten nur sehen, sich gegenseitig ansehen, ihre Gesten und die Gesten der Person am Fenster des anderen Zugs. Und von dieser kam die Geste der Warnung, eine hektische Aufforderung, zurückzutreten. Das habe ich noch gesehen, bevor ich die Augen schloss.
Meine Knie zittern nicht mehr, als ich aufstehe. Ich öffne die Tür und atme tief ein. Dann steige ich hinunter auf den Bahnsteig.