Mannheim – ein Morgenspaziergang

Eine Nacht in einem Hotel und ein Frühstück liegen hinter mir und mir steht eine Tagung bevor, die erst in anderthalb Stunden beginnt. Daher ist also noch etwas Zeit jetzt am Morgen und mir kommt die Idee zu einem Spaziergang. Ich will nicht gar nichts von der Stadt gesehen haben. Hinaus also aus dem Hotel, bevor es zu spät wird. Und dann stehe ich an einer Ecke mit der Bezeichnung „N5“ und weiß nicht weiter.

In anderen Orten kann ich mich auf meine Intuition verlassen, um das Zentrum zu finden – ich sehe mich um und kann erkennen, wo die Häuser bedeutsamer werden, in welche Richtung die Menschen gehen und worauf die Straßen zulaufen. In Mannheim funktioniert das nicht.

Ich werfe einen vorsichtigen Blick in die vier möglichen Richtungen und erinnere mich verzagt daran, dass man hier eine Fläche als Zentrum bezeichnet, die selber keines hat. Diese sogenannte Innenstadt ist eine Anlage von Rechtecken, die nummeriert und buchstabiert sind. Orientierung geht also nach Zahlen und Buchstaben und dann aufwärts oder abwärts. Halbe Unentschlossenheit geht auch – man hält Buchstabe oder Zahl konstant und variiert das jeweils andere, im Zickzack laufend.

Also vielleicht die Orientierungsfrage anders formulieren: Wo ist vorn oder hinten? Oder ein Anfang und ein Ende?

Noch habe ich genug Zeit und muss noch nicht darauf achten, dass ich den Rückwegs finde – zügig gehe ich also los. Auf den Gevierten ringsum erhebt sich ein stilistisches Durcheinander an Gebäuden, die sich in der Ausführung zwar unterscheiden, im unbedingten Willen zur Hässlichkeit jedoch Einigkeit demonstrieren. Zwischen A1 und U14 sehe ich keinen ästhetischen Bezug auf die baulichen Nachbarn im eigenen oder im nächsten Rechteck und auch nicht zum Gegenüber. Die Schluchten zwischen den Rechtecken (die in anderen Städten Straßennamen tragen) weisen keine Richtung und die Bebauung gibt keinen Zusammenhang. Überraschend sehe ich zwischen den heruntergekommenen älteren oder geschmacklosen modernen Gebäuden auch noch Häuser aus der Gründerzeit mit ihren hohen Geschossen und großen Fenstern, Sandsteinfassaden und Balkonen. Solche Gebäude wecken in mir wie immer die Vorstellung, darin zu bewohnen – wäre da nicht der Ausblick auf den ganzen Mannheimer Rest ringsherum.

Ich stolpere in einen Park in einem der Rechtecke, der wie hineingerissen wirkt in die restliche Struktur. Ich schaue mich nach den fehlenden Gebäuden um, dann ahne ich, dass hier eine grüne Stelle geplant war.

Ein Blick auf die Karte zeigt, dass Mannheim zwischen zwei Flüssen liegt – ja, kein schlechter Ort für eine Stadt. Nur kann ich die Flüsse hier nicht wahrnehmen. Will ich einen davon sehen, muss ich das „Stadtzentrum“ verlassen. Dann stehe ich an einem Ufer, irgendwo ist eine stark befahrene Brücke und auf der anderen Seite geht es ebenso weiter, wie es in den „Quadraten“ aussieht (jenseits des Rheins gibt es dafür zumindest einen anderen Namen).

Mannheim behauptet als Sehenswürdigkeit einen Wasserturm. Er befindet sich am Rand der Zentrums-Rechtecke, umgeben von einer Parkanlage. Auf den Wegen sind die Menschen in allen Richtungen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs, keiner macht den Versuch, sich aufzuhalten, Unruhe überall.

Mich beschleicht das Gefühl, es gebe irgendwo ein Geheimnis – sagen wir, eine heimliche Übereinkunft der Mannheimer, dass für sie alles als schön oder erträglich gilt, was anderswo in Deutschland für das Gegenteil gehalten wird. Es muss einen Witz für Eingeweihte ausmachen, derart ratlose Stadtbesucher heimlich zu beobachten und Wetten darauf abzuschließen, wie lange sie aushalten.

Ich verlangsame meine Schritte, halte noch ein wenig aus und frage mich, wie ich mich fühlte, gäbe man mir statt einer Adresse mit Straßennamen eine, die wie ein Aktenzeichen klingt. Ich freue mich darüber, dass es Alternativen gibt. Wenn die Tagung vorbei ist, werde ich unverzüglich abreisen.

Der Bahnhof befindet sich übrigens an der Ecke des Blocks L15.

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